Sollten Unternehmen in 360°-Videoanzeigen investieren? So ein Format gab es noch nie. Aber lassen sich mit 360°-Videoanzeigen tatsächlich mehr Nutzeraktionen erzielen als mit Standardanzeigen? Columbia Sportswear und Google probierten es aus.
"Wait a minute, wait a minute, you ain’t heard nothin’ yet!"
Zu deutsch: "Wartet, wartet, Ihr habt doch noch gar nichts gehört!" Dies waren die ersten gesprochenen Worte im ersten Tonfilm der Geschichte. Sie leiteten eine neue Ära des Films ein.
In den letzten Jahrzehnten gab es einige bahnbrechende Entwicklungen beim Film: HD, Dolby-Surround-Sound und 3D. Aber nur wenige veränderten das Genre so grundlegend wie das Aufkommen des Ton- und Farbfilms. Wird die 360°-Videotechnologie das Filmbusiness ebenso revolutionieren oder verschwindet sie wieder in der Versenkung wie seinerzeit das Betamax-Format?
Die Aussicht, mit 360°-Videos eindrucksvoll Geschichten zu präsentieren, ist verlockend, und einige Unternehmen haben das Format bereits getestet. Aber wie viel können 360°-Videos tatsächlich zum Erfolg eines Unternehmens beitragen? Werden dadurch in der Werbung höhere Zuschauermesswerte erzielt?
Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, erstellten Google und Columbia Sportswear gemeinsam eine Kampagne mit zwei US-amerikanischen Freestyle-Skiläuferinnen vor einer atemberaubenden Kulisse in Chile. Die Marketingexperten und Fotografen von Columbia arbeiteten dabei eng mit einem Team unerschrockener chilenischer Skifotografen sowie mit 360 Labs zusammen, einer Firma, die bereits an der Entwicklung von Street View beteiligt war und sich seitdem auf 360°-Videotechnologie spezialisiert hat.
360°-Video im Vergleich mit Standardvideo
Lassen sich mit Rundumaufnahmen wirklich mehr Nutzerinteraktionen erzielen als mit standardmäßigen Videoanzeigen? Um dies herauszufinden, erstellten wir zwei ähnliche Kampagnen mit TrueView, dem YouTube-Anzeigenformat, das Nutzer auf Wunsch überspringen können. Für jede Kampagne wurde ein 60 Sekunden langer Werbespot für Columbia Sportswear gedreht: eine Version mit der 360°Videotechnik und die andere im Standardformat für Videoanzeigen. Beide Varianten enthielten in der linken unteren Ecke einen Call-to-Action, über den eine erweiterte Version des Videos aufgerufen werden konnte. So ließ sich ermitteln, bei welcher Anzeige mehr Nutzer das Video in seiner gesamten Länge ansehen wollten – bei der 360°- oder der standardmäßigen Videoanzeige.
Wir verglichen die Nutzerinteraktion für beide Anzeigen mithilfe typischer Messwerte wie View-through-Raten und Zuschauerbindung. Bei der 360°-Anzeige nutzten wir zusätzlich einen neuen Messwert, die so genannte Interaktionsrate. Über diesen Wert erfassten wir, ob Nutzer über die Maus auf Desktop-Computern oder durch Neigen des Smartphones die Panoramafunktion des 360°-Videos verwendeten.
Sowohl die 60 Sekunden langen Spots als auch die Versionen in der Gesamtlänge wurden während des Tests nicht gelistet. Die Columbia-Sportswear-Videos konnten also nur über unsere In-Stream-Kampagnen oder P2P-Freigabe aufgerufen werden.
Die Story war einfach gestrickt: Die erfahrene Hannah Kearney und die junge aufstrebende Keaton McCargo trainieren gemeinsam und tauschen Erfahrungen aus. Die Zuschauer sollten beim Ansehen des Videos das Gefühl haben, gemeinsam mit den beiden die Buckelpiste hinunterzusausen oder einen Hockeystop direkt neben der Kamera zu machen.
Für die Standardanzeige und die dazugehörige lange Version wurde praktisch um die Skiläuferinnen herum gedreht. Abfahrten und die Landschaft wurden mit Luft- und Weitwinkelaufnahmen erfasst.
Die 360°-Anzeige und die dazugehörige lange Version wurden so gedreht, dass der Zuschauer mitten ins Geschehen hineinversetzt wird und auf eigene Faust die Umgebung erkunden kann. Beide Videoversionen wurden von Kearney und McCargo kommentiert.
Die Ergebnisse
Wir vermuteten, dass die 360°-Anzeige bessere View-through-Raten und längere Wiedergabezeiten aufweisen würde als die standardmäßige Videokampagne. Bei der Auswertung der Messwerte waren wir jedoch überrascht:
1. Bei den klassischen Zuschauerwerten schneidet die 360°-Videoanzeige nicht besser ab als die Standardanzeige
Erstaunlicherweise wurden mit der 360°-In-Stream-Anzeige sowohl auf Desktop-Computern als auch auf Mobilgeräten geringere View-through-Raten erzielt als mit der Standardanzeige. Beim Ansehen von Videos sind Nutzer also nicht unbedingt bereit, mit dem 360°-Video zu interagieren.
In anderen Bereichen erzielte die 360°-Anzeige jedoch bessere Ergebnisse.
2. Nutzer sind eher bereit, bei 360°-Videos die lange Version anzusehen und zu interagieren
Die 360°-Videoanzeige erzielte eine geringere Bindungsrate als die Standardanzeige. Gleichzeitig war die Klickrate dieser Anzeige aber höher, die Zuschauer wollten also häufiger die lange Version des Videos ansehen. Als Werbung für das Video in der gesamten Länge eignete sich die 360°-Anzeige somit sehr gut. Oft klickten Nutzer sogar vor dem Ende der kurzen Version, weil sie den Spot in ganzer Länge sehen wollten.
Bei der 60 Sekunden langen Version war die Interaktionsrate, die angibt, wie häufig Zuschauer die 360°-Panoramafunktion durch Neigen oder Scrollen nutzen, höher als die View-through-Raten. Die 360°-Anzeige förderte also durchaus die Interaktion, auch wenn Nutzer nicht 30 Sekunden oder mehr des Videos sahen.
3. Nutzer teilen und abonnieren 360°-Videos häufiger und rufen im Anschluss weitere Videos auf
Die 360°-Anzeige übertraf die Standardanzeige bei allen erzielten Aktionen: Sie wurde häufiger aufgerufen, abonniert und geteilt. Insgesamt wurden für die 360°-Anzeige 41 % mehr erzielte Aktionen erfasst als für die Standardanzeige. Zudem verzeichneten wir mehr Interaktionen mit dem YouTube-Kanal von Columbia als bei der Standardanzeige.
Aber das ist noch nicht alles: Da sowohl die kurzen als auch die langen Versionen für die Dauer des Tests nicht gelistet waren, konnten Nutzer die Anzeige in der Gesamtlänge nur über einen Klick auf die Anzeige aufrufen. Also erwarteten wir, dass die Anzahl der Aufrufe der langen 360°-Anzeige der Anzahl der Klicks auf die kurze Version entsprach. Aber das war nicht der Fall.
Das bedeutet, Nutzer, die sich die lange 360°-Version ansahen, kopierten die URL, um sie direkt mit anderen zu teilen. Zu den Besucherquellen für die 360°-Anzeige gehörten beispielsweise WhatsApp und iOS Messenger – nicht so für die Standardversion. Am Ende des Tests erhielt das lange 360°-Video 46 % mehr Aufrufe als die lange Version des Standardvideos. Letztendlich war die 360°-Anzeige effizienter, da der Cost-per-View bei einer Kombination der organischen und bezahlten Aufrufe geringer war.
Der Test zeigte also, dass 360°-Videoanzeigen vielversprechende Möglichkeiten bieten, die Interaktion zu steigern. Mit der neuen Technologie werden Nutzer dazu animiert, selbst über ihre Perspektive zu bestimmen – indem sie ganz einfach das Smartphone neigen oder den Mauszeiger bewegen. Davon können Unternehmen ganz gewaltig profitieren: Denn Nutzer sind nicht nur daran interessiert, 360°-Videos anzusehen, sie teilen sie auch. Wenn sich dieses Anzeigenformat durchsetzt und mehr Unternehmen damit werben, werden Nutzer und Unternehmen gleichermaßen davon profitieren. Und dies könnte tatsächlich eine neue Ära des Werbefilms einläuten.