Ben Jones ist als Global Director von Google Creative Works federführend bei Initiativen, die Marken dabei unterstützen, mit wirkungsvollen, kreativen Inhalten ihre Marketingziele zu erreichen.
Sämtliche Verhaltensmuster im Content-Bereich haben sich in den vergangenen zwei Jahren grundlegend verändert. Ohne Übertreibung lässt sich sagen: Video war das Durchstarter-Medium in diesem Zeitraum. Ob kurz oder lang, gestreamt oder geteilt: Wir alle sahen Videos, um unser durch die Pandemie eingeschränktes Leben zu bereichern. In unseren selbstoptimierenden und auf unsere Interessen abgestimmten Timelines spiegeln sich diese Jahre des ungebremsten Wissensdurstes, der persönlichen und beruflichen Weiterbildung, der Begeisterung und Interessenvielfalt wider. Sie haben sich zu ganzen Content-Welten entwickelt, die aus all dem bestehen, was uns am Herzen liegt.
Was uns gerade begeistert, kann einen Tag oder ein Jahrzehnt alt sein – die traditionelle Zeitrechnung der TV-Ära gehört der Vergangenheit an. Um ein Beispiel zu nennen: Die beliebteste Fernsehserie der amerikanischen Generation Z ist die bereits 2013 eingestellte Comedy-Serie „The Office“. Wir interessieren uns nicht mehr nur für Neues, sondern für alles, was unsere Vorstellungskraft anregt. Das können Mitschnitte ikonischer Konzerte sein oder jahrealte Lehrvideos oder Tutorials, mit denen man beispielsweise lernen kann, wie man Kompost anlegt oder mit der Kettensäge umgeht, ohne dabei Finger zu verlieren.
Diese Momente, in denen wir in unsere Content-Welt eintauchen, faszinieren mich, denn sie sind ein Motor für die flächendeckende digitale Transformation. Die Werbebranche sollte sie als Aufruf verstehen, kreativen Content zu schaffen, der die Menschen nicht nur erreicht, sondern auch anregt bzw. berührt.
Kreativteams, die sich in einer von unendlicher Vielfalt und Auswahl geprägten neuen Videowelt orientieren müssen, sollten drei zentrale Punkte beachten.
Kreativer Content ist King – in allen Formaten
Kreative Werbung hat sich den Spitzenplatz als wichtigster ROI-Faktor erobert. Da verschärfte Datenschutzbestimmungen zu Recht viele traditionelle Datenquellen zum Versiegen gebracht haben und die Automatisierung Marketingbudgets freisetzt, werden außergewöhnliche kreative Inhalte als Hauptmotor der strategischen Differenzierung an Bedeutung gewinnen.
Die Möglichkeiten, präzise zu identifizieren, was die Performance einzelner Videos oder ganzer Kampagnen vorantreibt, nehmen beinahe explosionsartig zu. Dank neuer Daten, Tools und Methoden lassen sich schnell enorme Wertsteigerungen erzielen – Wertsteigerungen, die messbar sind, keine neuen Skills erfordern und sofort skaliert werden können. Und doch werden sie viel zu selten voll ausgeschöpft.
Auf der Makroebene hat das Streaming einen Aufschwung erlebt. Mehr als 30 Millionen Menschen schauen YouTube auf ihrem TV-Gerät.1 Immer häufiger genießen Zuschauende auf ihren Smart-TV-Geräten lange Filme, die mit großen Budgets produziert wurden. Gleichzeitig sehen sie sich aber auch sehr kurze Videos an, die von YouTuberinnen und YouTubern und anderen Content-Creatorn für kleine Displays produziert werden. Dass zwei so unterschiedliche Medientypen gleichzeitig an Popularität gewonnen haben, zeigt: Den Zuschauerinnen und Zuschauern kommt es nicht auf das Format oder den Produktionswert an. Vielmehr bemisst sich die Qualität an der Relevanz, der geistigen Anregung, dem sensorischen Erlebnis und der emotionalen Resonanz.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2022 sehen sich die durchschnittlichen YouTube-Zuschauenden heutzutage regelmäßig 15 oder mehr verschiedene Arten von Inhalten an.2 Zuschauerinnen und Zuschauern steht eine fast unbegrenzte Auswahl an Inhalten zur Verfügung, gepaart mit noch nie da gewesenen Möglichkeiten, Optionen zu bestimmen. Sie wählen Inhalte nicht nach Bildschirmgröße, Quelle, Produktionsqualität oder Länge aus. Alles läuft letztlich auf die Optimierung des Videoerlebnisses und die unendlich vielen Möglichkeiten an persönlich relevanten Inhalten hinaus. So bauen sich die Zuschauenden ihre eigenen Medienwelten auf, angereichert mit allem, was sie am liebsten sehen. Die Milliardeninvestitionen der Filmstudios reichen aber nicht aus, um mit dieser schier unstillbaren Nachfrage Schritt zu halten.
Herauszufinden, wie Sie Ihre Spots durch strategisches Finetuning auf verschiedene Zielgruppen abstimmen, wird bald wichtiger sein, als Werbung auf bestimmten Displays darzustellen. Fußballfans interessieren sich vielleicht für Gartenarbeit, junge Eltern planen möglicherweise Auslandsreisen. Der mit einer gemeinsamen Vision von Agentur und Marke entwickelte Werbespot wird im Umfeld einer Produktrezension ebenso gut ankommen wie in einem viralen Comedy-Sketch. Seine Wirksamkeit hängt davon ab, wie gezielt er den Nerv der Zuschauenden trifft.
Eine Analyse von YouTube-Kampagnen aus der ersten Jahreshälfte 2021, die wir vor Kurzem gemeinsam mit der Global Alliance for Responsible Media (GARM) durchgeführt haben, ergab, dass die beste Performance nicht durch Targeting erreicht wurde, das exakt an der vertikalen Zielgruppe der Werbetreibenden ausgerichtet war. Bei einer Verbraucherumfrage sagten nur 28 Prozent der befragten erwachsenen US-Bürgerinnen und -Bürger, dass es ihnen auffalle oder wichtig sei, ob ein Werbespot zum inhaltlichen Kontext des Videos passe, das sie sich gerade ansähen.3 80 Prozent der Befragten erklärten dagegen, dass sie Werbung oder Markeninhalten gegenüber aufgeschlossener seien, wenn diese für sie relevant seien.
Überwinden Sie die Denkmuster des linearen Fernsehens
Beim Eintritt ins digitale Zeitalter haben wir weiterhin am Erfolgsmodell des linearen Fernsehens festgehalten. Die Medienkäufe waren jedoch Abbild einer überholten Hierarchie. Mittlerweile haben die digitalen Kanäle eine damals nicht zu erwartende Größenordnung erreicht. Vom linearen Fernsehen geprägte Narrative haben keinen Platz mehr in unseren Marketingstrategien. Werbetreibende müssen umdenken, um ihre Spots für jeden Kanal mit den jeweiligen Zielgruppen und Formaten zu optimieren.
Doch unser kollektives Festhalten an der Vergangenheit versperrt uns die Sicht auf die Gegenwart. Der viel beschworene 30-Sekunden-Werbespot ist zu lang, um der Marke Top-of-Mind Awareness, also die Führungsposition im Bewusstsein der Verbrauchenden, zu sichern – und zu kurz, um überzeugen zu können. Er ist zu komplex für eine sinnvolle Automatisierung und zu eindimensional für unser Zeitalter der unendlichen Informationen. Wie sich zeigt, lässt sich durch Spots mit einer Länge von sechs bis 15 Sekunden sehr viel effektiver und effizienter Aufmerksamkeit erzielen. Die ideale Länge für emotionale Wirkung und Überzeugungskraft beträgt dagegen zwei bis drei Minuten.4
Werbetreibende müssen auf sehr kurze oder sehr lange Videos setzen, um nicht im „Tal der Tränen“ zu enden.
Ein flüchtiger Blick auf die Liste der Cannes-Lions-Gewinner 2020–2021 zeigt, dass über 80 Prozent der Spots, die mit Silbernen bzw. Goldenen Löwen ausgezeichnet wurden, eine Laufzeit von mindestens 60 Sekunden hatten. Ein Grund für diesen Trend ist die Tatsache, dass sich nur in der Langversion das volle kreative Potenzial einer Idee oder „Big Story“ ausschöpfen lässt. Kurze Spots können helfen, das Markenbewusstsein zu stärken oder die Nachfrage anzukurbeln. Der eigentliche Zweck aber liegt darin, die Zuschauerinnen und Zuschauer mit der ganzen Geschichte in Kontakt zu bringen, die Marken erzählen möchten und müssen.
Die lange Werbeform ist eines der wirkungsvollsten Instrumente, die wir haben, um unser Publikum zu fesseln. Und gleichzeitig das am häufigsten missverstandene. Marken unterschiedlicher Bereiche nutzen sie zur Aufmerksamkeitssteigerung und setzen sie ähnlich wie Filmtrailer ein, um das Potenzial storybasierter Ansätze auszuschöpfen. Dabei schaffen Marken außerhalb der Medien- und Unterhaltungsbranche neue Genres, insbesondere Produktberichte, Produkt-Demos und kurze, erzählerische Spots. Wo mehr „Sendezeit“ zu füllen ist, gibt es auch mehr Interesse zu wecken, das genutzt werden muss. Werbespots haben klare attention triggers: Möglichkeiten für Werbetreibende, die Aufmerksamkeit des Publikums entweder zu gewinnen oder auch zu verlieren.
Da der klassische 30-Sekünder als ROI-Treiber mit großem Abstand am schlechtesten abschneidet, ist die Prognose klar: Werbetreibende müssen auf kurze oder lange Spots setzen, um nicht im „Tal der Tränen“ zu enden.
Nutzen Sie die Technik für sich
Wie also sollten Sie den Aufbau einer teilautomatisierten, videogestützten, datenschutzkonformen, informationsgetriebenen, zielgerichteten und kreativitätsorientierten Wachstumsmaschine im Marketing angehen?
Die Aufgabe agiler Marken wird es sein, die Komplexität zu durchdringen, die mit dem Konkurrieren einzelner Unternehmenswerte um Zeit und Ressourcen einhergeht. Zielgruppensuche, Targeting, Skalierung und sogar die Auswahl von Formaten und einfache Optimierungen der kreativen Inhalte werden zunehmend automatisiert, sodass sich die kreativen Köpfe stärker darauf konzentrieren können, neue, komplexere Ausdrucksformen zu entwickeln.
Werbetreibende sollten das Beste aus jeder Kampagne herausholen, indem sie jede Asset-Konfiguration auf ein klar definiertes Ziel abstimmen.
Die Kreativen werden längere, tiefgründigere Geschichten produzieren können, die berühren und überzeugen. Doch damit diese Geschichten von Menschen gesehen werden, müssen Marken ihre Kampagnen so gekonnt steuern wie Formel-1-Fahrer ihre PS-starken Rennmaschinen. Es wird immer Raum für emotionales Storytelling geben, doch erst die Werbevideos werden einer Marke diesen Raum sichern. Marken müssen lernen, dieses System für sich zu nutzen.
Um dabei erfolgreich zu sein, müssen Werbetreibende ihre kreativen Methoden verfeinern. Die ABCD-Prinzipien von YouTube sind den meisten ein Begriff, doch sie könnten noch mehr tun. Weniger als 30 Prozent der Werbe-Assets orientieren sich an diesen Prinzipien, obwohl Nielsen eine durchschnittlich 30-prozentige Umsatzsteigerung ausmachte, wenn die ABCD-Prinzipien befolgt werden.5 Multipliziert mit Ihren Werbeausgaben ergibt das eine Menge an nicht ausgeschöpftem Wert.
Anstatt sporadisch in Werbe-Experimente zu investieren, bei denen die Plattform als monolithische Einheit betrachtet wird, sollten Marken das volle Potenzial jeder Kampagne ausschöpfen, indem sie jede Asset-Konfiguration auf ein klar definiertes Ziel abstimmen. Marken mit hoch entwickelter Strategie setzen auf strukturelle Verbesserungen: skaliertes Monitoring, skalierte Tests, Verzahnung von Media und Kreation sowie zielorientierte Planung. Bei jedem neuen Kampagnenlaunch optimieren und skalieren sie entsprechend der gewonnenen Erkenntnisse.
Marketing-Teams sollten nicht vor der Komplexität einer Content-Landschaft zurückschrecken, die von den Interessen, Fragen, Wünschen und Launen von Millionen von Menschen geprägt wird. Diese Menschen sind bereit, sich begeistern zu lassen. Mit den Erkenntnissen, wie sich verschiedene Botschaften bestmöglich an die jeweils zugänglichsten Personen übermitteln lassen, können Marken Kreation und Media zusammenführen – und so das volle Potenzial beider Bereiche ausschöpfen.