Einer der kulturellen Nebeneffekte der Corona-Pandemie ist die deutliche Entschleunigung unseres Lebens. „Slow Living“ lautet das Motto und vielen kommt das gerade recht.
Roya Zeitoune leitet das Culture-and-Trends-Team von Google in Europa, dem Nahen Osten und Afrika. Nicolas Szmidt ist Leiter des International Trends Research bei YouTube. Die Teams der beiden analysieren gemeinsam YouTube-Daten zu Videoaufrufen, um neu aufkommende Verbrauchertrends zu erkennen. In diesem Artikel teilen sie ihre Erkenntnisse zum neuen Slow-Living-Trend.
Slow-Living-Videos werden auf YouTube immer populärer und sind eng mit beliebten Themen wie „Einfaches Leben“ und „Minimalismus“ verbunden. Mit ihrer Analyse haben die Teams die Nutzungsgewohnheiten genauer unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: Videos mit „Slow Living“ im Titel wurden 2020 viermal so oft aufgerufen wie noch 2019. Die Daten zeigen, dass viele von uns die Pandemie nutzen, um Hobbys und Interessen nachzugehen, die sie früher für zu zeitaufwendig hielten.
Videos zum Thema „Slow Living“ setzen ein starkes Interesse des jeweiligen Nutzers voraus. Sie sind oft lang und von entspannender Musik begleitet. Manche sind sogar ohne Ton. Das sanfte Tempo verleiht ihnen einen meditativen Charakter. Für Creatorn und Zuschauer spielen kleine Details eine wichtige Rolle. Die Aktionen wirken überlegt und gezielt.
Inhaltlich geht es oft um Arbeiten und Hobbys wie Gärtnern, Möbelrestaurierung und gute Kaffeezubereitung.
Auch Brotbacken ist nach wie vor ein Thema und wird gelegentlich mit Slow Living verbunden.
Die Anziehungskraft von Slow Living: Sehnsucht, Alltagsflucht und Erfolgserlebnisse
Einige der mit Slow Living verbundenen Interessen sind nicht neu. So ist atmosphärische Musik in Zusammenhang mit einem bewussten, entspannten Leben schon seit mindestens zehn Jahren auf YouTube sehr gefragt. Aber inzwischen interessieren sich Nutzerinnen und Nutzer immer mehr für solche Inhalte.
Diese Videos finden gerade in der Pandemie besonderen Anklang, weil sie eine Flucht aus dem Alltag bieten, Sehnsüchte stillen und das Gefühl eines Erfolgserlebnisses vermitteln.
Dem Alltag entfliehen und Sehnsüchte stillen: Nicht jeder von uns hat einen Garten oder eine sonstige Rückzugsmöglichkeit. Doch indem wir uns solche Videos ansehen, können wir in neue Welten, Charaktere und Denkweisen eintauchen.
Beispielsweise haben die Tausenden Zuschauerinnen und Zuschauer, die eine Creatorin aus den Niederlanden bei der Herstellung von Lavendelöl begleiteten, nicht zwangsläufig auch selbst welches hergestellt. Aber allein schon ihr bei dieser Arbeit zuzusehen, wirkt wohltuend und ist eine willkommene Ablenkung vom Alltag.
Erfolgserlebnisse: Zuschauerinnen und Zuschauer, die diesen neuen Hobbys nachgehen und den entsprechenden Videoanleitungen folgen, haben am Ende ein Erfolgserlebnis. Denn wenn wir Aufgaben lösen können, gibt uns das ein befriedigendes Gefühl der Kontrolle in einer ansonsten unsicheren Welt.
Als Brand eine Verbindung zur Slow-Living-Bewegung finden
Die Hobbys, denen sich die Menschen derzeit widmen, zeugen von der Sehnsucht nach den „guten alten Zeiten“. Dass vor allem digitale Kanäle genutzt werden, um diese nostalgischen, analogen Hobbys auszuüben, ist die Ironie der Slow-Living-Bewegung.
Wie können Unternehmen, Marketingexperten und Werbetreibende von Slow Living profitieren?
Für Unternehmen, deren Angebot in Zusammenhang mit entsprechenden Hobbys wie Gärtnern und Kochen steht, ist das kein Problem. Sie stimmen ihre Werbung einfach auf Verbraucherinnen und Verbraucher ab, die sich solche Inhalte wünschen. Aber auch, wenn das nicht der Fall ist: Viele andere Produkte und Dienstleistungen lassen sich im Umfeld von Slow Living bewerben, indem sie vor dem eigentlichen Content ausgespielt werden.
Am wichtigsten für Unternehmen ist es, zu begreifen, dass sich das Konsumverhalten verändert hat. Werbetreibende müssen die Botschaften für ihre wichtigsten Zielgruppen anpassen, um sie weiterhin zu erreichen. Das bedeutet auch, Media- und Creative-Pläne entsprechend abzustimmen.
Oft wird gefragt, ob sich solche pandemiebedingten Trends fortsetzen, wenn wir zur Normalität zurückkehren. Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Normal wird vermutlich unter anderem sein, dass mehr Menschen flexibel und von zu Hause aus arbeiten. Bei Slow Living gehen wir davon aus, dass sich dieser Trend zumindest in einigen Lebensbereichen dauerhaft durchsetzen wird.