Wie schafft es ein Unternehmen wie Google, weiter exponentiell zu wachsen und dennoch innovativ zu bleiben? Susan Wojcicki, Senior Vice President of Advertising bei Google, erläutert einige der Prozesse und Prinzipien, die Google anwendet, um nicht in der Vergangenheit zu verharren, sondern den Blick auf die Zukunft zu richten.
Die größten Innovationen sind für uns heute selbstverständlich, wie zum Beispiel die Glühbirne, der Kühlschrank oder Penizillin. Aber wie kann ein Unternehmen, das noch dazu so groß ist wie Google, jedes Jahr aufs Neue innovative Ideen hervorbringen – in einer Welt, in der Innovationen so schnell zum Allgemeingut werden?
Die Antwort lautet: Es muss eine Unternehmenskultur entwickeln, die Raum für Innovationen lässt. Inzwischen arbeiten mehr als 26.000 Mitarbeiter in 60 Standorten für Google. Für uns ist es wichtig, den besonderen Geist am Leben zu halten, der Google prägte, als ich als Mitarbeiter Nummer 16 anfing.
Damals war ich Leiterin der Marketingabteilung (die aus einer Person bestand). In den vergangenen zehn Jahren habe ich mit einer enormen Vielfalt an Produkten zu tun gehabt. Einige waren sehr erfolgreich, andere nicht so sehr. Obwohl sich im Laufe der Jahre viel verändert hat, haben wir unser Bekenntnis zu Innovation und Risiko stets beibehalten.
Der Unterschied besteht für uns heute darin, dass wir einerseits Neues ersinnen und andererseits vor dem typischen Dilemma innovativer Unternehmen stehen: Sollen wir in neue Produkte investieren oder die alten Produkte verbessern? Wir möchten beides tun. Und dabei immer möglichst viel dazulernen. Im Laufe der vergangenen Jahre haben wir folgende acht Prinzipien entwickelt, die uns auf diesem Weg leiten sollen.
Inzwischen arbeiten mehr als 26.000 Mitarbeiter in 60 Niederlassungen für Google. Für uns ist es wichtig, den besonderen Geist am Leben zu halten, der Google prägte, als ich als Mitarbeiter Nummer 16 anfing.
Ein relevantes Ziel haben
Arbeit kann mehr sein als nur ein Job, nämlich wenn es um etwas geht, das mir am Herzen liegt. Das Ziel von Google ist es, die Informationen der Welt zu organisieren und für alle zu jeder Zeit zugänglich und nutzbar zu machen. Diese einfache Aussage ist der Leitfaden für alle unsere Entscheidungen. Wenn wir uns auf neues Terrain wagen, dann meist deswegen, weil wir ein Problem erkannt haben, das bislang noch nicht gelöst wurde, und glauben, es mithilfe von Technologien lösen zu können. Zum Beispiel haben wir Gmail entwickelt, um eine bessere Web-E-Mail-Funktionalität, bessere Suchfunktionen und mehr Speicherplatz zu bieten.
Mit den Zielen, die wir uns gesetzt haben, können wir viele Menschen erreichen. Besonders wichtig ist uns, dass sich unsere Mitarbeiter diesen Zielen verbunden fühlen und das Gefühl haben, dass sie einen wichtigen Beitrag leisten können. In Krisenzeiten haben unsere Mitarbeiter immer wieder lebenswichtige Informationen gesammelt und zur Verfügung gestellt. Die Googler, die im März 2011 innerhalb von nur zwei Stunden nach Ausbruch des Erdbebens und des Tsunamis in Japan unseren Person Finder, sind ein tolles Beispiel für das Engagement unserer Mitarbeiter.
Groß denken, aber klein anfangen
Ganz egal, wie groß die Pläne sind: Irgendwo muss man anfangen. Also sagen wir: Ärmel hoch und los geht's. Google Books, eine Plattform, die Millionen von Büchern online verfügbar macht, war eine ganz frühe Idee des Google-Gründers Larry Page. Viele Leute meinten, die Idee wäre viel zu verrückt, um sie überhaupt auszuprobieren. Aber Larry kaufte einfach einen Scanner und stellte ihn in seinem Büro auf. Er begann, ein paar Seiten zu scannen, nahm mit einem Metronom die Zeit, die er dafür benötigte, rechnete das Ganze durch und stellte fest: Ja, es ist möglich, alle Bücher der Welt online zu stellen. Heute enthält unser Index über 10 Mio. Bücher aus aller Welt.
Ein anderes Beispiel: AdSense ist ein Tool, das kontextbezogene Anzeigen auf Websites veröffentlicht. Alles begann damit, dass einer unserer Entwickler in Gmail Anzeigen einrichtete. Wir stellten fest, dass wir mithilfe einer ausgefeilteren Technologie bessere Ergebnisse erzielen konnten. Dazu mussten wir diesem winzigen Projekt allerdings mehr Ressourcen zur Verfügung stellen. Heute erreicht AdSense 80 % der Internetnutzer weltweit. Es ist das größte Anzeigen-Netzwerk der Welt, und wir haben weltweit Hunderttausende von Publishern.
Stetige Innovation statt sofortiger Perfektion
Das Beste an der Arbeit im Internet? Man hat immer einen zweiten Versuch. Und einen dritten und vierten und fünften und ... Die erste Version von Google Ads1, die 1999 veröffentlicht wurde, war nicht sonderlich erfolgreich. Es klickte fast niemand auf die Anzeigen. Aber heute erinnert sich nahezu niemand mehr daran, weil wir die Version überarbeitet haben, immer und immer wieder, so lange, bis das heutige Modell entstanden war. Und auch an diesem Modell arbeiten wir immer weiter. Jedes Jahr führen wir zehntausende Experimente zur Qualität von Suchergebnissen und Anzeigen durch. Im vergangenen Jahr haben wir über ein Dutzend neue Formate veröffentlicht. Einige Produkte werden täglich aktualisiert.
In diesem iterativen Prozess lernen wir oftmals wertvolle Lektionen. Wenn wir uns direkt ansehen, wie die Nutzer auf ein Produkt reagieren, können wir am besten herausfinden, was funktioniert und was nicht. Das Feedback nutzen wir dann, um das Produkt zu verbessern. Wichtig ist, diese Erkenntnisse möglichst früh zu gewinnen, um nicht zu lange in die falsche Richtung zu gehen und damit viel Zeit zu verlieren.
Für uns ist es entscheidend, aus jedem Schritt zu lernen und ihn dann zu verbessern. Wir sind nicht der erste Anbieter einer Suchmaschine, aber wir konnten uns im Markt durchsetzen, weil wir schnell gearbeitet und noch schneller dazugelernt haben – und weil wir die nächsten Schritte auf der Grundlage der vorliegenden Daten vorgenommen haben.
Ideen finden sich überall
Als Leiterin unseres Werbebereichs interessiere ich mich für alle Arten von Ideen – ganz gleich, ob sie aus meinem Team kommen, von unseren Partnern oder von den Anzeigenkunden. Ich mische mich auch gern in die Gespräche der Googler ein, die sich auf den Fluren miteinander unterhalten.
Vor einigen Jahren haben wir dieses Motto wörtlich genommen und im Headquarter von Google in Mountain View ein Ideenboard aufgestellt. Eines Freitagabends schrieb ein Entwickler ein kompliziertes Problem an das Board, das wir mit unserem Anzeigensystem hatten. Eine Gruppe von Googlern, die an dem Abend noch nichts vorhatten, begann sofort den Algorithmus umzuschreiben – und am Dienstag war das Problem gelöst.
Einige der besten Ideen von Google entstehen auf diese Weise: indem sich eine kleine Gruppe von Googlern einen Nachmittag freinimmt und über das redet, was sie gerade fasziniert. Das Google Art Project, in dem Tausende von Museumsstücken online gestellt wurden, oder die erfolgreichen Google Ads-Funktionen, etwa die automatisierten Regeln, sind gute Beispiele für Projekte, die bei einem Gespräch in unseren "Microkitchens" ihren Anfang nahmen. Deswegen gibt es bei uns immer und zu jeder Zeit jede Menge Snacks ...
Alles wird geteilt
Unsere Mitarbeiter wissen immer gut Bescheid darüber, was gerade im Unternehmen passiert, und aus welchem Grund welche Entscheidungen getroffen werden. Alle drei Monate senden wir den Vorstandsbericht an alle 26.000 Mitarbeiter und zeigen ihnen in einem Meeting dieselbe Präsentation, die auch im Vorstand präsentiert wurde.
Da wir all diese Informationen weitergeben, regen wir die Diskussion und den Meinungsaustausch an und motivieren Mitarbeiter, Ideen aus einer völlig neuen Perspektive zu betrachten. Dies kann zu unerwarteten, innovativen Ergebnissen führen. Wir versuchen, diese Arbeitsweise zu fördern. Deshalb arbeiten bei uns kleine, kompakte Teams an Arbeitsplätzen, die offenen Würfeln gleichen, und nicht in Einzelbüros.
Wenn jemand eine Idee hat oder eine Meinung zu einer Entscheidung benötigt, kann er einfach denjenigen, der neben ihm sitzt, anstupsen und fragen. Vielleicht hat sein Sitznachbar einen guten Beitrag beizusteuern. Die Idee zur Sprachübersetzung in Google Talk (unserem Gmail-Chat-Client) entstand in Gesprächen zwischen dem Google Talk- und dem Google Translate-Team, als diese bei der Arbeit zufälligerweise einmal unmittelbar nebeneinander saßen.
Fantasie als Zündung, Daten als Sprit
In einem sich schnell verändernden Markt wissen die Menschen oftmals nicht, was sie genau wollen. Und können es sich manchmal noch nicht einmal vorstellen. Deswegen suchen wir immer nach Mitarbeitern, die daran glauben, dass das Unmögliche möglich gemacht werden kann. Ein Beispiel dafür ist Sebastian Thrun, der zusammen mit seinem Team Technologien für fahrerlose Autos entwickelt, um daran mitzuwirken, dass weniger Menschen durch Verkehrsunfälle sterben. Diese Autos, die sich noch in der Entwicklung befinden, sind bereits mehr als 225.000 Kilometer durch San Francisco gefahren: durch die berühmte verschlungene Lombard Street, über die Golden Gate Bridge und den Pacific Coast Highway – ohne einen einzigen Unfall.
Um diese Art des freien Denkens zu fördern, gibt es bei uns das Prinzip "20 Prozent Zeit": Unsere Entwickler haben pro Woche einen ganzen Tag, an dem sie arbeiten können, woran sie wollen. Als wir einen Blick auf den Kalender warfen und uns die Veröffentlichungen der letzten sechs Monate ansahen, stellten wir fest, dass viele Produkte dank diesem Prinzip entstanden sind.
Was mit einer intuitiven Idee beginnt, wird anschließend durch Daten ergänzt. Und wenn man Glück hat, weisen Intuition und Daten in die gleiche Richtung. Lange Zeit hat Google zehn Suchergebnisse pro Seite angezeigt, weil unsere Gründer das für die beste Zahl hielten. Dann machten wir einen Test und fragten die Nutzer: "Möchten Sie 10, 20 oder 30 Suchergebnisse pro Seite?" Alle waren einstimmig der Meinung: 30. Andererseits schnitt die Seite mit zehn Suchergebnissen in Nutzertests besser ab, weil sie schneller geladen wurde. Wenn wir 30 Suchergebnisse anzeigen wollten, benötigte die Seite 20 % mehr Ladezeit. Und das, worauf die Nutzer am meisten Wert legten, war Schnelligkeit. Das ist das Schöne an Daten: Sie können bestätigen, was man sich instinktiv überlegt hat, sie können aber auch genau das Gegenteil zeigen.
Eine Plattform bieten
Es gibt so viele erstaunliche Innovationen, die von Menschen auf der ganzen Welt vorangetrieben werden. Deswegen glauben wir an die Macht von für jedermann zugänglichen Technologien und offenen Plattformen. Sie ermöglichen jedem jederzeit, seine besonderen Fähigkeiten und Perspektiven einzusetzen, um auf unseren Plattformen neue Produkte und Funktionen zu kreieren.
Durch diese Offenheit kommen wir in der Entwicklung schneller voran. Google Earth bietet beispielsweise anderen Entwicklern die Möglichkeit, sogenannte "Schichten" auf unsere Landkarten zu legen und diese der ganzen Welt zu zeigen. Einer unserer Nutzer hat eine Schicht entwickelt, die Animationen von Sensordaten in Echtzeit verwendet, um zu demonstrieren, was passiert, wenn der Meeresspiegel von einem auf 100 Meter steigt. Ein anderes gutes Beispiel für offene Technologien ist unsere mobile Plattform Android. Derzeit sind über 310 Geräte auf dem Markt, die das Betriebssystem Android verwenden, und fast eine halbe Million Android-Entwickler nutzen außerhalb unseres Unternehmens die umfassenden Ressourcen von Google. Diesen unabhängigen Entwicklern verdanken wir die meisten der 200.000 Apps in Google Play.
Misserfolge erlaubt
Google ist bekannt für YouTube, nicht für den Google Video Player. Die Menschen erinnern sich eben eher an die Erfolge als an die Misserfolge. Man darf ruhig scheitern – unter der Bedingung, dass man aus seinen Fehlern lernt und sie schnell korrigiert. Glauben Sie mir: Wir sind sehr, sehr oft gescheitert. Aber wenn man weiß, dass man scheitern darf, hat man die Freiheit, Risiken einzugehen. Die Technologiebranche ist derart dynamisch, dass man in dem Moment hinter andere zurückfällt, in dem man aufhört, Risiken einzugehen.
Zwei meiner ersten Projekte bei Google, AdSense und Google Answers, waren beide für das Unternehmen völliges Neuland. AdSense wurde ein milliardenschweres Geschäft, Google Answers (bei dem die Nutzer dafür bezahlten, dass sie einem Experten Fragen stellen konnten) wurde nach vier Jahren wieder vom Markt genommen. In dieser Zeit haben wir sehr viel gelernt und konnten dieses Wissen bei der Entwicklung anderer Produkte anwenden. Wenn wir Angst gehabt hätten zu scheitern, hätten wir uns weder an Google Answers noch an AdSense gewagt und damit gleich zwei Gelegenheiten vertan.
Die Mitarbeiter unseres stetig wachsenden Unternehmens kommen aus allen Ländern dieser Welt und bringen höchst unterschiedliche Erfahrungen mit. Dadurch, dass wir eine Reihe starker gemeinsamer Prinzipien entwickelt haben, können alle Mitarbeiter konkret und gemeinsam an unseren Zielen arbeiten. Wichtig ist nur, "Ja" zu sagen und keine Kultur des "Neins" zuzulassen. Man muss Scheitern als etwas Normales ansehen und bereit sein, Dinge so lange zu verändern und zu verbessern, bis sie möglichst perfekt sind.
Wie heißt es auf unserer Homepage so schön: "Auf gut Glück!" Ich schätze mich jedenfalls jeden Tag glücklich, wenn ich zur Arbeit gehe, und weiß, dass mein Job bei Google etwas ganz Besonderes ist.